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Woran es der Debatte um kulturelle Aneignung fehlt

Black lives matter, Demonstration gegen Rassismus, kulturelle Aneignung

Mehr Neugier und weniger Polemik, mehr Offenheit und weniger Aggressivität

Die von Medien und Politik geführte Debatte rund um die Frage, wann die Übernahme von Elementen fremder Kulturen als problematisch einzustufen ist, wirkt so festgefahren und undifferenziert wie kaum eine andere. Dabei könnten wir alle einen Nutzen aus der Diskussion ziehen, wenn wir ihr nur mit mehr Offenheit und Neugier begegnen würden.

Doch leider beschränkt sich die Auseinandersetzung mit der Thematik im Großen und Ganzen auf zwei sich ständig wiederholende Argumentationslinien, die nicht mehr sind als eine wenig fundierte und allzu oft spöttische „Kritik an der Kritik.“

So wird auf der einen Seite von einem Großteil der Politiker:innen und Journalist:innen jegliche Beanstandung von kultureller Aneignung ins Lächerliche gezogen und als „Woke*Wahnsinn“ (Bild) bezeichnet. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz nannte die „Cancel Culture“ neulich die „größte Bedrohung der Meinungsfreiheit“ und der Bild-Kolumnist Louis Hagen sehnt sich zurück in die guten alten Zeiten, „als Kinder noch Indianer sein durften.“ Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Thematik findet nicht statt, stattdessen werden angebliche kulturelle Verbote aufgelistet und sich darüber echauffiert, dass man heutzutage ja gar nichts mehr sagen dürfe.

Auf der anderen Seite wird die Kritik an kultureller Aneignung immer wieder als Ausdruck neurechter Auffassungen eingestuft. So kommentierte Leonie Feuerbach in der FAZ, es erinnere an das Weltbild der rechtsradikalen Identitären Bewegung, wenn die Nutzung kultureller Eigenheiten nur Angehörigen bestimmter Völker zugestanden werde. Nach Ansicht der Journalistin gehe die Idee der kulturellen Aneignung von klar abgrenzbaren Kulturen aus und verkenne, dass es schon seit Jahrhunderten eine kulturelle Vermischung gäbe. Diese Bewertung wird nicht nur von konservativen Medien vertreten (so wie beispielsweise auch von der Welt, die anmerkt: „Eine Logik, mit der sich auch Björn Höcke anfreunden könnte“), sondern auch von liberaleren Medien.

Beide Seiten vereinfachen die Fragestellung. Wer behauptet, die Debatte sei lächerlich oder gar überflüssig, verkennt bereits, dass über die Thematik gar nicht so intensiv diskutiert und teilweise auch gestritten werden würde, wenn ihr keine gesellschaftliche Relevanz zukäme.

Viel zu kurzgegriffen ist auch die Einschätzung, hier agierten Linke wie Rechte. Wer so argumentiert, scheint entweder nicht verstanden zu haben, worum es geht, oder bewusst von den wahren Hintergründen ablenken zu wollen, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass wir in einer rassistischen Gesellschaft leben. Denn es geht nicht um die Ablehnung von Austausch, Vielfalt und Pluralität, sondern darum, die dahinterstehenden ungleichen Machtverhältnisse zu kritisieren.

Nicht der Austausch ist das Problem, sondern die Ausbeutung

Kulturelle Aneignung bedeutet nämlich nicht nur die Adaption und Übernahme von Instrumenten, Bildern und Symbolen einer anderen Kultur. Vielmehr geht es darum, dass Objekte und Praktiken – losgelöst von ihrer kulturellen und politischen Bedeutung – durch Angehörige der Mehrheitsgesellschaft auf ein konsumierbares Stereotyp reduziert und verwertet werden.

Kritker:innen der kulturellen Aneignung sehen sich häufig dem Argument ausgesetzt, kulturellen Austausch habe es schon immer gegeben. Dies ist zwar richtig, in Wahrheit war dieser „Austausch“ jedoch nicht gleichberechtigt, sondern gewaltsame Ausbeutung im Kontext von Kolonialherrschaft, Imperialismus und ungleichen Machtverhältnissen. Daran hat sich leider nicht viel geändert, denn noch heute gilt: Die Dominanzkultur nimmt einer anderen, oft marginalisierten Gruppe etwas weg und entscheidet schließlich darüber, ob sie im Gegenzug etwas zurückgeben möchte. Kulturelle Aneignung bedeutet daher nicht, ein Gut auszutauschen. Kulturelle Aneignung bedeutet vielmehr, dass die Mehrheitsgesellschaft etwas an sich nimmt, ohne nachzufragen, ob die Weg- oder Übernahme in Ordnung ist. Auch an einer Gegenleistung fehlt es in der Regel – was insbesondere dann problematisch ist, wenn die Wegnahme mit Profitabsicht erfolgt.  

Beispiele gibt es viele: Weiße Menschen, die Dreadlocks oder Braids tragen, Kinder, die von ihren Eltern als „Indianer“ verkleidet werden, die Ausnutzung schwarzer Musikstile wie Reggae oder Hiphop durch weiße Künstler:innen, Tattoos mit polynesischen Motiven, der Fox Eyes Trend, das Aufstellen von Buddhastatuen als Dekoration oder für das Wellnessmarketing.

Während all diese Beispiele vor einigen Jahren noch auf keine oder kaum Kritik gestoßen sind, hat sich dies mittlerweile geändert. So wurde beispielsweise vergangenen Monat im „Restaurant Brasserie“ in Bern ein Konzert der Reggae-Band „Lauwarm“ abgebrochen, nachdem einige Besucher:innen ihr „Unwohlsein“ angesichts der Dreadlocks-tragenden weißen Bandmitglieder geäußert hatten. Im März diesen Jahres lud die Ortsgruppe Hannover der Fridays for Future-Bewegung die Sängerin Ronja Maltzahn von einer Kundgebung aus, auf der sie hätte performen sollen. Die Begründung: Man wolle bei diesem „globalen Streik auf ein antikolonialistisches und antirassistisches Narrativ setzen“ und könne daher nicht vertreten, dass eine weiße Person, die Dreadlocks trägt, auf der Bühne stehe. Ronja Maltzahn entgegnete auf die Vorwürfe, sie wolle auf der Bühne „kulturelle Vielfalt zelebrieren.“

So oder ähnlich würden vermutlich auch Lady Gaga oder Justin Bieber argumentieren, die ebenfalls phasenweise Dreads trugen. Was sie alle verbindet: Sie sind Performer:innen, verdienen mit ihren Auftritten (und damit automatisch auch mit ihrem Look) Geld und profitierten damit von der Aneignung des schwarzen Haarstils.  

Dies ist problematisch, weil das Tragen von Dreadlocks in der Vergangenheit eine der kühnsten rebellischen Handlungen von Sklav:innen war; und sie dafür häufig auf sehr brutale Art und Weise bestraft wurden. Im Übrigen geht schon allein die Bezeichnung „Dreadlock“ („dread“ wie grausam, furchteinflößend) auf kolonialrassistische Zuschreibungen zurück. Hinzu kommt, dass PoCs auch heute noch diskriminiert werden, wenn sie ihre Haare als Dreads oder Braids tragen. Sie finden schwerer eine Arbeitsstelle, schwerer eine Wohnung und müssen häufig mit rassistischen Bemerkungen oder gar Übergriffen leben. Wenn dagegen eine weiße Person solche Frisuren trägt, ist diese Form der Diskriminierung unwahrscheinlich.  Weiße Menschen bereichern sich also – indem sie ihre Haare auf diese Art und Weise tragen – an der Kultur einer marginalisierten Gruppe,  ohne etwas zurückzugeben und ohne eine nur ansatzweise vergleichbare Diskriminierung dafür zu erfahren.

Gleiches gilt für Weiße, die Rap-Musik produzieren, ohne jemals in einem Project bzw. einer Hood gelebt zu haben oder sich jemals in einer solch prekären Situation befunden zu haben, dass sie jederzeit auf offener Straße erschossen werden konnten. In der Regel steht hinter diesen Musiker:innen ein Musiklabel und eine Fanbase – etwas, was schwarzen Musiker:innen oft verwehrt bleibt.

Hinzu kommt, dass Menschen, die Teil der Mehrheitsgesellschaft sind, sich jeden Tag aufs Neue entscheiden können, ob sie sich zum Beispiel die Augen nach dem Fox-Eyes Trend (und damit angelehnt an asiatische Augenformen) schminken möchten oder nicht. Eine asiatisch gelesene Frau hat diese Möglichkeit nicht, sie kann die Merkmale, anhand derer sie im Alltag Diskriminierung erfährt, nicht ablegen, so wie sich auch ein angeblich an der Hautfarbe erkennbarer Migrationshintergrund nicht wie ein Kostüm ablegen lässt.

Dies sollte uns allen bewusst sein, genau wie jedem Menschen, der sich beispielsweise als Indianer verkleidet, zumindest bewusst sein sollte, welcher massiven Diskriminierung Native Americans ausgesetzt waren und wie beleidigend es daher sein kann, wenn man sich bestimmte Merkmale, die Grund für die Diskriminierungen waren und sind, aus Spaß aneignet; zumal durch solche Verkleidungen Stereotype reproduziert werden, die sich schließlich auch in den Köpfen der Menschen festsetzen.

Und nur zur Klarstellung: Das häufig vorgebrachte Argument, nach der Logik der Kritiker:innen an kultureller Aneignung müsse es auch rassistisch sein, wenn Menschen aus anderen Kulturen beispielsweise bei einem Besuch des Oktoberfests Lederhosen und Dirndl tragen, zieht nicht. Denn Rassismus ist etwas Strukturelles. Gegenüber der Dominanzkultur kann es daher schon rein denklogisch keinen Rassismus geben.

Im Übrigen können Menschen aus der Dominanzkultur auch nicht entscheiden, was verletzend oder rassistisch ist. Diese Einordnung steht einzig und allein denjenigen zu, die von Diskriminierungen und Anfeindungen betroffen sind.  

Die Lösung: Anerkennung, Austausch, Beteiligung

Selbstverständlich geht es nicht darum, jemandem etwas zu verbieten. Jede Form von Paternalismus hat bei der Debatte nichts zu suchen. Wenn sich ein erwachsener Mensch beispielsweise an Fasching als Native American verkleiden möchte, soll er das tun. Es wäre jedoch wünschenswert, wenn er sich, bevor er eine solche Entscheidung trifft, zumindest mit den Hintergründen auseinandersetzen würde. Hierzu gehört es auch, neugierig zu sein, Dinge zu hinterfragen, sich selbst zu reflektieren. Denn wer die Hintergründe kennt und beispielsweise – wenn auch nur ansatzweise – nachvollziehen kann, wie massiv Indigene ausgebeutet wurden, kommt vermutlich auch selbst auf die Idee, dass es angebrachter wäre, sich beispielsweise als Katze oder Astronaut:in zu verkleiden.

Wichtig ist auch, zu erkennen, dass wir als weiße Menschen im Gegensatz zu marginalisierten Gruppen Privilegien haben, die automatisch auch eine Form von Verantwortung mit sich bringen. Es liegt an jeder und jedem Einzelnen von uns, zu hinterfragen, wie wir mit dieser Verantwortung umgehen möchten – ob wir beispielsweise die Möglichkeit haben, etwas zurückzugeben oder weniger privilegierte Menschen, deren Kultur wir uns aneignen, zu beteiligen. Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen mit kulturfremden Merkmalen in Film, Musik und Literatur Geld gemacht wird. Hier sollte eine Beteiligung selbstverständlich sein, indem Menschen aus der entsprechenden Minderheit bestenfalls bei der Produktion mitwirken oder zumindest der Ursprung des Elements benannt wird.

Die Diskussion um kulturelle Aneignung könnte insofern auch eine Chance sein. Sie könnte uns alle dazu bringen, uns mehr zu informieren und mehr Interesse an anderen Kulturen zu zeigen, insbesondere auch an marginalisierten Gruppen und den kolonialrassistischen Hintergründen bzw. Zuschreibungen. Denn nur, wer sich dessen bewusst ist, kann problematisches Verhalten überhaupt erkennen. Gerade deshalb wäre eine differenziertere und mit mehr Offenheit und Interesse geführte Debatte so wichtig: Sie könnte unser Interesse an anderen Kulturen fördern, anstatt es zu unterbinden, sie könnte zu einem intensiveren Austausch führen und uns dadurch näher zusammenbringen, sie könnte strukturellen Rassismus und Diskriminierungen sichtbar machen, die für die weiße Mehrheitsgesellschaft vielleicht gar nicht offensichtlich sind. Auf diese Weise könnte die Thematik dazu führen, dass wir alle einen Nutzen aus der Diskussion ziehen.

Und was dabei nie vergessen werden darf: Der Vorwurf der kulturellen Aneignung ist eine Folge anhaltender sozialer Ungerechtigkeit. Im Grunde geht es also darum, diese Ungleichheit zu bekämpfen. Es geht nicht in erster Linie darum, Frisuren oder Kostüme zu ändern, sondern um die Erkenntnis, dass wir in einer rassistischen Gesellschaft leben. Es geht um den Kampf gegen Diskriminierung. Alles andere würde vermutlich automatisch folgen.

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