Simone de Beauvoir schildert in ihrem autofiktionalen Roman „Die Unzertrennlichen“ ihre Freundschaft zu Elisabeth Lacoin, genannt Zaza. Vor allem aber erzählt sie vom Kampf zweier junger Frauen gegen den Konformismus einer bürgerlichen Gesellschaft und den autoritären Katholizismus der Zwanzigerjahre.
Das ursprünglich titellose Werk entstand bereits 1954. Nunmehr hat de Beauvoirs Partnerin und Adoptivtochter Sylvie Le Bon de Beauvoir es aus dem Nachlass freigegeben – ein großes Glück, schildert der Roman doch auf höchst persönliche, beinahe intime Weise eine der Ursprungsszenen der Frauenrechtsbewegung: Wenn eine Frau von Familie oder Gesellschaft daran gehindert wird, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, gerät sie in einen Konflikt zwischen ihren eigenen Wünschen und den Erwartungen ihrer Umgebung. Darunter litten sowohl Simone de Beauvoir als auch Zaza. Doch während es de Beauvoir gelang, sich zu emanzipieren, blieb Zaza gefangen in den Fesseln der konservativen, patriarchalen Gesellschaft, die für sie so unerträglich waren, dass sie bereits mit 21 Jahren sterben musste – sie „erstickte“, so beschreibt es der Roman, an den Konventionen ihrer Umgebung.
Dieser Verlust und die Liebe zu ihrer Schul- und Jugendfreundin Zaza waren zentral im Werk von Simone de Beauvoir und spielten beispielsweise auch in ihrer Biografie „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“ und dem Erzählband „Marcelle, Chantal, Lisa …“ eine Rolle. „Die Mandarins von Paris“ enthielt in seiner ursprünglichen Fassung ebenfalls eine Passage, die sich diesem Thema widmete.
In „Die Unzertrennlichen“ schildert Simone de Beauvoir diese für sie so wichtige Freundschaft in nur leicht fiktionalisierter Form. Bemerkenswert ist, dass sie hierbei nicht theoretisch wird und an keiner Stelle eine intellektuelle Distanziertheit zu spüren ist, wie sie sich in anderen ihrer Werke findet. Vielmehr wird de Beauvoir beinahe leidenschaftlich, wodurch sich erahnen lässt, wie sehr sie unter dem Verlust ihrer Freundin gelitten hat.
Die Ich-Erzählerin Sylvie Lepage (Simone de Beauvoir) und Andrée Lacoin (Zaza) lernen sich mit gerade einmal neun Jahren in einem katholischen Institut für Kinder aus dem Pariser Bürgertum kennen und fühlen sich auf Anhieb zueinander hingezogen. „Alle Kinder, die ich kannte, langweilten mich; aber Andrée brachte mich zum Lachen“, heißt es zu Beginn des Romans. Die Freundschaft wird inniger. Schon früh diskutieren Sylvie und Andrée über Gott und Religion, über gesellschaftliche Etiketten, Liebe und Literatur.
Sylvie bewundert Andrée für ihr Selbstbewusstsein: „(…) sie bewegte sich selbstsicher wie eine Erwachsene.“ Und doch ist es schließlich Andrée, die gefangen bleibt in den Zwängen des konservativ-katholischen Milieus.
So kehren sich die Rollen im zweiten Teil des Romans insofern um, als nun Sylvie diejenige ist, die selbstbewusster und revolutionärer erscheint. Während Sylvie beispielsweise den Glauben an Gott als Jugendliche aufgibt, fürchtet sich ihre Freundin auch Jahre später noch, Sünden zu begehen und den Erwartungen ihrer Familie nicht gerecht zu werden. An diesem Konflikt zerbricht sie zunehmend.
Und so sehr Sylvie sich auch bemüht, ihrer Freundin zu helfen: Es gelingt ihr nicht. Denn auch sie muss sich aus ihrem konservativen, katholischen Umfeld und den vorherrschenden patriarchalen Strukturen befreien. „Ich fragte mich, was ich ihr sagen sollte: Ich hatte nicht mal die richtigen Worte gefunden, um mich selbst zu trösten.«
Schon in ihrer Biografie charakterisiert Simone de Beauvoir ihre Freundin Zaza als emotional und leidenschaftlich – ganz im Gegenteil zu de Beauvoir selbst, die sich eher als reserviert, zurückhaltend und kontrolliert darstellt. Auch in „Die Unzertrennlichen“ wird Andrée in erster Linie von ihren Gefühlen geleitet. Sylvie hält sich eher im Hintergrund und ist darum bemüht, das Verhalten und die Gefühlsausbrüche ihrer Freundin zu analysieren, die hin und hergerissen ist zwischen ihrem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben und den Erwartungen ihrer Familie und der bürgerlichen Gesellschaft. Andrée geht dabei so weit, dass sie sich mit einer Axt den Fuß verletzt, nur um eben diesen Erwartungen zu entgehen und „ihre Ruhe zu haben“ vor den zahlreichen, ihr verhassten Verpflichtungen und Arbeitsaufträgen ihrer Eltern. Diese Selbstverletzung ist für die besonnene Sylvie nur schwer nachzuvollziehen: „Wie haben Sie nur den Mut dazu gefunden? Sie hätten sich den Fuß abhacken können!“ Auf diese Frage antwortet Andrée schlicht mit: „Ich konnte nicht mehr.“
Dass Andrée „nicht mehr konnte“, zeigt sich schließlich auch daran, dass sie kaum noch Schlaf findet und so gut wie keine Nahrung mehr zu sich nimmt. Dennoch wird ihr weiterhin jedes Recht auf Privatsphäre aberkannt und dadurch zugleich eine freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit unmöglich gemacht. Auch ihre Beziehung zu Pascal Blondel (der für Maurice Merleau-Ponty steht), wird von der Familie unterbunden, woraufhin Pascal sich schließlich ebenfalls zurückzieht. Diese unmögliche, weil verbotene Liebe verstärkt Andrées Leiden noch zusätzlich. Und auch wenn ihr durchaus bewusst ist, dass es die familiären und gesellschaftlichen Erwartungen sind, die sie zerreißen, gelingt es ihr nicht, sich davon zu befreien. Allein bei dem Gedanken daran fühlt sie sich schuldig, schließlich ist ihr bewusst, dass sie damit ihre Mutter enttäuschen würde; und das ist das Letzte, was sie möchte. Die Liebe zu ihrer Mutter, die von Sylvie als „militante Katholikin“ bezeichnet wird, ist es letztendlich auch, die Andrée vollends zerreißt.
Sie verstirbt mit nur 21 Jahren – erstickt von den Zwängen, denen sie sich nicht entziehen konnte. Oder, um es mit Sylvie zu sagen: „Ich begriff dunkel, dass Andrée gestorben war, weil all dieses Weiß sie erstickt hatte.“
Der Roman endet abrupt, was womöglich ein Zeichen dafür ist, dass Simone de Beauvoir den Tod ihrer Jugendfreundin nie überwunden hat. Hierfür spricht auch, dass die vier Teile ihrer Biografie jeweils mit den Worten enden: „Zaza zu lieben“, „erzählte“, „den Tod überwände“ und „mit ihrem Tod bezahlt“. Dies macht deutlich, wie sehr Simone de Beauvoir Zeit ihres Lebens unter dem Verlust gelitten hat, und zwar nicht nur aus Trauer, sondern auch aufgrund der Verzweiflung, die sich angesichts der Ungerechtigkeiten einer patriarchalen, konformistischen Gesellschaft bei ihr einstellte. Zudem fühlte sie sich schuldig, weil ihr nach ihrer „Befreiung“ die Welt offenstand, während Zaza dem Tod nicht entgehen konnte. Zazas Tod war in den Augen de Beauvoirs quasi der Preis für ihr eigenes Überleben.
Am 25. November 1929 schrieb sie in ihr sonst so ausführliches Tagebuch lediglich drei Worte: „Mort de Zaza“ (Tod von Zaza).
Liebe Berthe,
ich kannte das Buch bislang nicht, aber schon deine Rezension berührt mich sehr. Ich werde es mir auf die Leseliste packen.
Alles Liebe
Marie
Liebe Marie,
oh schön, das freut mich sehr – danke dir!! Das Buch ist wirklich großartig und hat mich sehr berührt.
Alles Liebe auch für dich
Berthe