Zum Inhalt springen

Buchtipp des Monats: Fatma Aydemirs sehnsuchtsvoller Roman „Dschinns“

Bücher, Literatur, Buchtipp

Fatma Aydemir erzählt in ihrem Familien- und Gesellschaftsroman „Dschinns“ von Gefühlen, die sich nicht in Worte fassen lassen, von Sehnsucht und Heimatlosigkeit und von dem Dunklen „das die Menschen verängstigt, weil es nichts Greifbares ist.“ „Dschinns“ ist nicht nur ein großartiger Roman über das Leben zwischen den Kulturen, über Emanzipation und Unterdrückung, sondern in erster Linie ein Roman, der Missstände aufzeigt und anklagt. Und das ist auch gut so!  

Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Heute lebt sie als Schriftstellerin, Kolumnistin und Redakteurin der taz in Berlin. Zuletzt gab sie mit Hengameh Yaghoobifarah die Anthologie „Eure Heimat ist unser Albtraum“ heraus. Ihr Debütroman „Ellbogen“ wurde mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet.

In ihrem zweiten, mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichneten Roman „Dschinns“ wird jedes Kapitel aus der Perspektive eines Mitglieds der Familie Yilmaz erzählt. Neben den Eltern Hüseyin und Emine sind das die drei erwachsenen Kinder Sevda, Hakan und Perihan, genannt Peri, sowie der fünfzehnjährige Ümit. Während deren Perspektive in erlebter Rede geschildert wird, wählt Aydemir bei Hüseyin und Emine die Du-Perspektive. In Wahrheit sind es nämlich die Dschinns, die zu ihnen sprechen. Ein großartiges, ästhetisches Stilmittel, das die Autorin hier einsetzt, denn wie sollte man den Tod einer Person emotionaler und treffender schildern als in Form von inneren Stimmen, von Dschinns, die sich von den sterbenden Körpern ablösen. Dschinns, das sind körperlose Geisterwesen, die – dem islamischen Glauben nach – unter uns leben, ohne dass wir sie sehen können. Dschinns sind aber auch „Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer.“ 

Der erste Dschinn, dem man als Leser:in begegnet, ist die innere Stimme, die dem sterbenden Hüseyin schon auf den ersten Seiten des Romans verspricht, sie werde „hierbleiben“, in seiner Wohnung und über seine „Familie wachen.“ Hüseyin, der in den Siebzigerjahren als „Gastarbeiter“ nach Deutschland gekommen war, hat sein Leben lang hart gearbeitet und sich mit Renteneintritt endlich den Traum einer Wohnung in Istanbul erfüllt. Die Stadt ist ihm fremd, nur einmal war er bisher dort, dennoch spürt er diese Sehnsucht und meint, zwischen den hupenden Autos, dem Geschrei der Möwen, dem Trubel der Großstadt und den Rufen des Muezzins endlich sein Glück finden zu können – für sich selbst, für seine Frau Emine, die sich nie wohlgefühlt hat in dem fiktiven süddeutschen Ort „Rheinstadt“, und für seine Kinder. Um die Wohnung für seine Familie einzurichten, die später nachkommen soll, fährt Hüseyin schließlich nach Istanbul. Doch schon kurz nach seiner Ankunft stirbt er an einem Herzinfarkt. Die Familienmitglieder in Deutschland erfahren von Hüseyins Tod, sie trauern, weinen oder schweigen; und müssen nun ebenfalls schnellstmöglich in die Türkei reisen – alle mit ihren Dschinns im Gepäck.

Da sind die Schwestern Peri und Sevda, die zwar unterschiedlicher nicht sein könnten, sich aber in einem gleichen: in ihrem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben und ihrem Mut, dafür zu kämpfen. Ihre Brüder Hakan und Ümit werden fragiler gezeichnet, was insbesondere deshalb bewegt, weil es aufzeigt, dass auch Männer unter dem Patriarchat leiden. So kann sich Hakan nach Hüseyins Tod nicht mit der ihm zugeschriebenen Rolle des Familienoberhaupts identifizieren, während sein jüngerer Bruder damit hadert, sich als homosexuell zu outen.

Nacheinander erzählen alle Familienmitglieder von ihren Ängsten und Träumen, von ihren Sehnsüchten und den Geheimnissen, die sie niemandem anvertrauen können. Und so bekommen die Leser:innen ein immer vollständigeres Bild von den Dschinns, die sämtliche Familienmitglieder in sich tragen. Wie ein Mosaik setzt Aydemir durch ihre Erzählungen die individuelle und für die sogenannte erste „Gastarbeiter“-Generation gleichzeitig typische Geschichte zusammen: Die Hoffnungen, mit denen Hüseyin nach Deutschland aufgebrochen war, verwandelten sich bald in Einsamkeit. Mit der Zahl rassistisch motivierter Straftaten, insbesondere in den Neunzigerjahren, in denen der Roman spielt, wuchs auch die Furcht, selbst Opfer rechter Gewalt zu werden. Erinnerungen und Sehnsüchte wurden unterdrückt und ließen nicht nur Hüseyin, sondern in erster Linie auch Emine immer stummer werden. Schweigen, Angst und Einsamkeit wehen durch die Buchseiten wie Dschinns, die sich in den Familienmitgliedern niederlassen.

Aydemirs zweiter Roman ist voller Wut – auf unsere rassistische und sexistische Gesellschaft, auf das Patriarchat und die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die eigene Identität letztlich immer fremdbestimmt bleiben muss. Gleichzeitig ist er aber auch voller Hoffnung und Sehnsucht, voller starker, mutiger Frauenfiguren und voller Zärtlichkeit.

2 Gedanken zu „Buchtipp des Monats: Fatma Aydemirs sehnsuchtsvoller Roman „Dschinns““

  1. Danke für die wunderschöne Rezension – feinfühlig geschrieben und macht Lust zum Lesen! Kannst Du die anderen Romane von Ihr auch noch besprechen? Ich starte quasi bei „Null“ und bin gespannt auf die Lektüre. Liebe Grüße! Mila

  2. Hallo Mila, danke dir! Es freut mich sehr, dass dir meine Rezension gefallen hat. Und gerne werde ich auch „Ellbogen“ noch besprechen. Liebe Grüße Berthe

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert